Am Vormittag des 29. Mai kamen die 10 polnischen Jugendlichen mit Frau Piotrowska, ihrer Englischlehrerin Frau Pastuszka und dem Dolmetscher Herrn Abramczyk nach einer über 16-stündigen Busfahrt in Bad Liebenzell an. Auch die 13 deutschen Jugendlichen, 3 Schülerinnen und 10 Schüler der Klasse 10b des Hermann-Hesse-Gymnasiums, kamen bei zunächst regnerischem Wetter mit ihrem Geschichtslehrer Herrn Kuhn auf der oberhalb von Bad Liebenzell thronenden Burg an. Nach Bezug der Zimmer ging es direkt zum ersten gemeinsamen Mittagessen ins Europa-Haus des Internationalen Forums.
In den folgenden Tagen erwartete die Jugendlichen bei zumeist schönem Wetter ein abwechslungsreiches Programm, das sich historischen und aktuellen Fragestellungen unter dem Thema "Diskriminierung gestern – Diskriminierung heute" widmete. Neben den Seminarsitzungen, abgehalten in den schönen und hellen Räumlichkeiten des Internationalen Forums, die teilweise von Frau Schneider bzw. Frau Piotrowska, teilweise aber auch von auswärtigen Referentinnen und Referenten gehalten wurden und in denen die Jugendlichen häufig in binationalen Kleingruppen zum Thema der Judenverfolgung im Nationalsozialismus sowie zum Thema des Antisemitismus und der Diskriminierung allgemein in unserer heutigen Zeit arbeiteten, standen auch zwei Tagesausflüge auf dem Programm:
Am Mittwoch fuhr die deutsch-polnische Gruppe mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Stuttgart, um dort einen Workshop im Hotel Silber, der ehemaligen Stuttgarter Gestapo-Zentrale, durchzuführen und um nachmittags in deutsch-polnischen Kleingruppen dem Schicksal einzelner Stuttgarter Jüdinnen und Juden anhand von Stolpersteinen nachzuspüren; am Donnerstag fuhr die Gruppe mit einem Reisebus nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, um dort – an dem Ort, an dem während des Jahres 1940 10654 vor allem geistig behinderte Menschen dem NS-Vernichtungsprogramm der „Euthanasie“ zum Opfer fielen – von einer Referentin in dieses bedrückende Thema eingeführt zu werden und nachmittags auch – sicherlich der emotionale Höhepunkt dieses Tages – ein Gespräch mit einer Opferangehörigen, deren Urgroßvater in Grafeneck ermordet wurde, führen zu können. Um den Tag ein wenig beschwingter ausklingen zu lassen, waren am Abend noch ein Besuch und eine Führung im Schloss Lichtenstein, dem „schwäbischen Neuschwanstein“, auf dem Programm, um der polnischen Gruppe auch ein bisschen Postkartenidylle zukommen zu lassen.
Natürlich ging es aber während dieser Begegnungswoche nicht nur um die Inhalte des Programms. Ebenso wichtig, vielleicht sogar wichtiger, waren das gegenseitige Kennenlernen und die gemeinsamen Erlebnisse der deutschen und polnischen Jugendlichen. Denn genau dies ist es doch, was während der letzten beiden Pandemiejahre nur noch sehr eingeschränkt möglich war. Bei den Jugendlichen auf beiden Seiten war ernsthaftes und lebhaftes Interesse am anderen zu spüren. Und dies äußerte sich in gemeinsamen zwanglosen Gesprächen, beim gemeinsamen Sport (Basketball, Tischtennis) oder beim gemeinsamen Abendprogramm.
Am Nachmittag des 4. Juni war der Moment des Abschieds gekommen, allerdings nur ein Abschied für relativ kurze Zeit. Im November wird die deutsche Gruppe mit Frau Schneider und Herrn Kuhn nach Oświęcim (Auschwitz) fahren, um dort – an dem Ort, der wie kein zweiter für die nationalsozialistischen Verbrechen, für Holocaust und Shoah steht, der aber auch eine mittelgroße polnische Stadt mit knapp 40000 Einwohnern ist – in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte eine weitere gemeinsame Woche mit der polnischen Gruppe zu verbringen. Es hieß also nicht nur Auf Wiedersehen! und Do widzenia!, sondern auch Bis bald! und Na razie!
Andreas Kuhn